Was ist der Unterschied zwischen einem Schocktrauma und einem Entwicklungstrauma?

Was ist der Unterschied zwischen einem Schocktrauma und einem Entwicklungstrauma?

[Lesezeit: ca 3 Minuten)]

 

Was ist der Unterschied zwischen einem Schocktrauma
und einem Entwicklungstrauma?

 

Wenn von Trauma die Rede ist, ist damit meistens Schocktrauma gemeint. Ein Schocktrauma unterscheidet sich jedoch in mehreren Aspekten von einem Entwicklungstrauma.

Bei einem Schocktrauma geht es meist um ein einmaliges Erlebnis, wie z.B. eine Naturkatastrophe, ein plötzlicher Verlust, eine Vergewaltigung oder einen Arztbesuch. Bei einem Schocktrauma ist das Erlebte derart überwältigend, dass es von unserem Gehirn nicht wie andere alltägliche Erfahrungen einsortiert werden kann. Dabei muss es sich nicht immer um körperliche Gewalt handeln. Die Wahrnehmung von starker Bedrohung oder extremer Belastung kann ebenfalls ein Schocktrauma verursachen.

Gabor Maté geht davon aus, dass das Trauma nicht das ist, was uns passiert. Sondern das, was uns danach passiert, d.h. ob jemand für uns da war und auf welche Weise jemand für uns da war.[1]

 

Was im Gehirn passiert

Das Gehirn ordnet alltäglichen Erlebnissen einen Ort und eine Zeit zu, über die wir diese Erfahrungen auch wieder abrufen können. So wissen wir z.B. dass wir gestern Nachmittag im Cafe XY mit Freundin AB Kuchen gegessen haben.

Bei einem Schocktrauma geschieht das Erlebte jedoch so schnell und wird von uns als derart überwältigend erfahren, dass unser Gehirn es nicht auf die übliche Weise abspeichert. Stattdessen nimmt unser Gehirn aufgrund der Geschwindigkeit des Erlebten den kürzesten Weg und lässt dabei die Einordnung des Geschehens in Raum und Zeit aus. Die Erfahrung wird in der Folge z.B. nur bruchstückhaft erinnert und/oder die Reihenfolge der Ereignisse kann nicht folgerichtig wiedergegeben werden.

 

Ein Beispiel:

Betreten wir z.B. eine Straße und ein Auto rast auf uns zu, überlegen wir nicht erst, wie wir reagieren. Wir reagieren einfach und springen z.B. zurück oder laufen vorwärts. Im Anschluss können wir darüber reden und unserer Freundin erzählen, was wir erlebt haben.

Gelingt das Wegrennen jedoch nicht und das Auto erfasst uns, ist es wahrscheinlich, dass wir im Anschluss nur fragmentierte, d.h. zersplitterte Erinnerungen an das Erlebnis haben. Wir wissen vielleicht, dass das Auto auf uns zuraste, erinnern aber nicht den Zusammenprall. Wir hören vielleicht, wie uns der Sanitäter im Krankenwagen ansprach, aber erinnern nicht, wie wir in den Krankenwagen gekommen sind.

 

Diese Art des Speicherns unseres Gehirns führt dazu, dass manche Menschen keine Worte für das Erlebte haben und schlicht nicht darüber sprechen können, was ihnen widerfahren ist. Andere sprechen darüber, spüren dabei aber nichts. Aufgrund der fehlenden Einordnung im Gehirn kann es unter anderem zu plötzlichen Erinnerungen, sogenannten Flashbacks kommen, die den Eindruck erwecken, als würde uns das Trauma im jetzigen Moment erneut widerfahren.

 

Bewältigungsmechanismen

Wenn eine heranwachsende oder erwachsene Person ein Schocktrauma erlebt, hat sie aufgrund ihres bisherigen Lebens meist Bewältigungsmechanismen, die ihr dabei helfen, mit dem Erlebten umzugehen. Sie hat vielleicht einen Freundeskreis, mit dem sie darüber reden kann oder weiß, was ihr guttut, um sich zu beruhigen. Darüber hinaus ist die Person vermutlich in der Lage, sich das, was ihr guttut, zukommen zu lassen. Anders als bei einem Entwicklungstrauma.

 

Was ist ein Entwicklungstrauma?

Ein Entwicklungstrauma ist etwas, dass in den ersten bzw frühen Lebensjahren geschieht und Auswirkungen auf das Verhalten eines Menschen hat. Bei einem Entwicklungstrauma ist der zentrale Aspekt, dass die Bedürfnisse des Kindes nicht angemessen wahrgenommen und erfüllt werden und das Kind sich daher an die Umwelt und die Bindungsperson(en) anpassen muss. Das heißt, es passt sein Verhalten an seine Umgebung an. Der Kern ist, dass das Kind auf die Bindungsperson angewiesen ist und sich für die Aufrechterhaltung des Kontaktes zu diesem Menschen ein Stück weit von dem Kontakt zu sich selbst trennt. Genauere Informationen dazu, findest du hier.

Natürlich kann es auch sein, dass ein Schocktrauma mit einem Entwicklungstrauma zusammenfällt.

 

Fazit:
Der Unterschied zwischen Schocktrauma und Entwicklungstrauma:

 

Entwicklungsphasen von Kindern nach NARM

Entwicklungsphasen von Kindern nach NARM

Der Weg des Herzens

[Lesezeit: ca. 6 Minuten)]

 

Im vorherigen Blogartikel gab ich dir eine erste, kurze Beschreibung davon, was ein Entwicklungstrauma ist und wie es entsteht. In diesem Artikel möchte ich dir einen ersten und sehr groben Überblick über die unterschiedlichen Entwicklungsphasen geben, in denen ein Entwicklungstrauma besonders deutliche Folgen hinterlässt. Im folgenden Text wird aus Gründen der Klarheit die jeweils stärkste Ausprägung aufgeführt. Natürlich gibt es Abweichungen davon und Überschneidungen.

 

Es gibt unterschiedliche Modelle zu Entwicklungsphasen von Menschen, besonders von Kindern. Bei der Methode NARM (Neuroaffektives Beziehungsmodel) wird der Blick auf die ersten ca. sechs Lebensjahre gerichtet, da die Entwicklung in dieser Zeit sehr zügig voranschreitet und besonders prägend für das weitere Leben ist. In dieser Zeit werden entscheidende Grundsteine für das weitere Leben gelegt. NARM unterteilt diese Jahre in fünf Phasen.[1] Die Aufteilung bezieht sich auf das Kernbedürfnis, dass in der jeweiligen Entwicklungsphase von besonderer Bedeutung ist. Die fünf Phasen werden auch als Überlebensstile bezeichnet.

 

1. Phase: Kontakt

Diese Phase bezieht sich auf die Zeit vor, während und bis zum ca. sechsten Monat nach der Geburt. In diesem Entwicklungsstadium ist der Fötus bzw. das Neugeborene vollkommen auf das Wohlwollen seiner Umwelt angewiesen, da es schutzlos ist. Erlebnisse, die hier zu einem Trauma führen können, sind vielfältig und können z.B. sein:

  • depressive, ängstliche, dissoziierte oder aufbrausende Mutter
  • ein oder beide Elternteile lehnen das Kind ab
  • äußere Faktoren wie Krieg, Armut, Hunger etc.
  • Schocktraumen wie versuchte Abtreibung, schwere Geburt, Frühgeburt, Tod der Mutter oder Todesfall in der Familie

Der Fötus bzw. das Neugeborene befindet sich noch mitten in der Entwicklung, was u.a. auch das Gehirn betrifft. Es stehen ihm weder Sprache noch reflektiertes Denken zur Verfügung und es kann weder fliehen noch kämpfen. Starke Belastungen, die es in dieser Phase erfährt, wirken sich daher nachhaltig belastend auf das Nervensystem aus. Das Neugeborene reagiert mit Rückzug in seinen innersten Kern und mit Erstarren. Ein Entwicklungstrauma in dieser frühen Phase führt daher zu einer Abschottung nach außen, d.h. zu den das Kind umgebenden Menschen und der Umwelt. Der spätere Erwachsene fühlt sich aufgrund dieser Erfahrungen oft unverbunden, als Außenseiter und nicht dazugehörig. Gleichzeitig fehlt ihm die Erinnerung an das verursachende Erlebnis, weil das Gehirn so kurz nach der Geburt das Erlebnis noch nicht in Raum und Zeit einordnen konnte. Seine größte Angst ist, Gefühle zuzulassen, weil er meint, dies nicht aushalten zu können.

 

2. Phase: Einstimmung

Diese Phase ist die Zeit bis ca. zum zweiten Lebensjahr. Das Bedürfnis nach einer eingestimmten Zuwendung steht im Vordergrund. Das heißt, dass Kleinkind ist in hohem Maße darauf angewiesen, dass die Bindungspersonen sein Bedürfnis nach Hunger, Durst und vor allem Zuwendung, Fürsorge und Liebe angemessen versorgen. Bleibt diese Versorgung aus, gerät das Kleinkind in innere Not und protestiert. Wendet sich ihm dauerhaft niemand zu, gibt es auf. Es resigniert, weil es die Erfahrung macht, dass es keinen Sinn macht, für die Erfüllung seiner Bedürfnisse zu kämpfen. Da es zu schmerzhaft ist, die eigenen Bedürfnisse weiter zu spüren, unterlässt das Kind es zunehmend, diese wahrzunehmen.

Erwachsene mit dieser frühen Thematik kennen ihre Bedürfnisse oft nicht und/oder haben kein Gespür für sie. Sie leben in einem permanenten Zustand von innerem Mangel und mit dem Konflikt, sich nach der Erfüllung ihrer Bedürfnisse zu sehnen, während sie gleichzeitig überzeugt sind, dass dies nicht geschehen kann. Ihre größte Angst ist, zurückgewiesen oder verlassen zu werden, wenn sie ihre Bedürfnisse äußern.

 

3. Phase: Vertrauen

Diese Thematik entsteht ca. zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr. Die Eltern dieser Kinder haben oftmals einen unerfüllten Karrierewunsch, den sie auf ihr Kind übertragen. Oder es gibt einen Elternteil, der das Kind sehr früh zum Vertrauten macht. Das Anlehnungsbedürfnis des Kindes wird manipuliert, indem es Zuwendung nur gegen Leistung erhält. Die elterliche Liebe ist damit an Bedingungen geknüpft und die Zuwendung, die das Kind erhält, richtet sich an das Ego des Kindes und nicht an sein eigentliches Selbst. Das bedeutet, dass das Kind sein authentisches Selbst aufgeben muss, um den Anspruch der Eltern an eine bestimmte Rolle zu genügen. Kinder mit diesem Überlebensstil haben folglich sehr gut gelernt, sich zu verstellen und wissen, wie es sich anfühlt, manipuliert zu werden. Sie kennen das Gefühl von Kontrollverlust und Ohnmacht, das damit einhergeht.

Erwachsene mit diesem Überlebensstil werden ihrerseits versuchen, andere zu manipulieren oder selbst Macht und Kontrolle auszuüben. Ihre größte Angst ist, zu versagen und sich hilflos und schwach zu fühlen.

 

4. Phase: Autonomie

Dieser Überlebensstil entsteht ca. zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr. In dieser Zeit geht es um die beginnende Selbständigkeit, die Autonomie des Kindes. Es beginnt die Welt allein zu erkunden und sich dafür ein Stück weit von den Eltern zu entfernen. Überängstliche Bindungspersonen, narzisstische Bindungspersonen oder solche, die eine sehr starke Kontrolle auf das Kind ausüben, werden das Unabhängigkeitsbedürfnis des Kleinkinds aus jeweils unterschiedlichen Gründen behindern. Ähnlich agieren Bindungspersonen, die aufgrund der beginnenden Selbstständigkeit des Kindes Angst haben, dass das Kind sie verlässt. Bindungspersonen mit solchen und ähnlichen Hintergründen nutzen Scham- und Schuldgefühle oder auch Gewalt, um das Kind in ihrem Rahmen in ihrem Einflussbereich zu halten.

Um den Kontakt mit den Bindungspersonen aufrechtzuerhalten und Demütigungen zu vermeiden, entwickelt das Kind eine angepasste Fassade nach außen, während es gleichzeitig den Widerstand, der diesen Kontakt gefährden würde, im Inneren behält. Nach Außen bemüht es sich um Anpassung und Freundlichkeit, während es innerlich gleichzeitig großen Groll hegt. Aufgrund dieses Konflikts lernt es, dass Liebe bedeutet, sich anpassen zu müssen und nicht frei zu sein.

Erwachsene mit dieser Thematik befinden sich in einer Ambivalenz zwischen ihrem eigenen Ausdruck und den angenommenen Ansprüchen von anderen. Ihre größte Angst ist es, sich so zu zeigen wie sie sind und dafür abgelehnt oder kritisiert zu werden.

 

5. Phase: Liebe und Sexualität

Diese Phase bezieht sich ca. auf die Zeit des vierten bis sechsten Lebensjahres. In dieser Phase beginnt das Kind seine Sexualität zu entdecken. Diese ist bei Kindern auf sich selbst bezogen und nicht auf andere. Auch Liebe spielt in dieser Zeit eine Rolle: fühlt sich das Kind mit seinem Ausdruck von Liebe angenommen oder zurückgewiesen?

Bindungspersonen, die strenge Regeln vorgeben und die auf die erwachende Sexualität des Kindes verurteilend, beschämend oder stark ablehnend reagieren, vermitteln dem Kind damit, dass mit seiner Sexualität etwas nicht in Ordnung ist. Auch in Familien, in denen Liebe und Zärtlichkeit nicht ausgedrückt oder sogar abgelehnt werden, erfährt das Kind, dass mit diesen Gefühlen etwas nicht in Ordnung ist. Folge davon kann ein gebrochenes Herz sein.

Wenn entweder Liebe oder Sexualität oder beides von den Bindungspersonen abgelehnt werden, können die Gefühle von Liebe und Sexualität nicht integriert und miteinander verbunden werden. Erwachsene mit diesem Überlebensstil sind oftmals sehr attraktiv, erfolgreich und aktiv und wirken nach Außen hin sehr selbstbewusst. Innerlich können sie jedoch das Gefühl haben, mit einem großen Makel behaftet zu sein, weswegen sie nach Perfektion streben, um Anerkennung zu bekommen. Ihre größte Angst ist es, mit einem Makel behaftet zu sein und verletzt sowie zurückgewiesen zu werden.

 

 

[1] Heller, Lauren; Lapierre, Aline (2013): Entwicklungstrauma heilen, 5. Auflage, München: Kösel,